Lukas Bärfuss – «Koala», Wallstein Verlag 2014
Lukas Bärfuss ist ein sehr erfolgreicher Schweizer Schriftsteller und Dramaturg. Er hat bereits mehrere Auszeichnungen erhalten, darunter den Anna Seghers Preis und den Berliner Literaturpreis. Für den Roman «Koala», den ich hier vorstellen möchte, erhielt er den Schweizer Buchpreis.
Diese Geschichte ist eine ganz besondere für mich. Ich habe sie fast in einem Rutsch durchgelesen und bin auf eine ganz bestimmte und feierliche Weise berührt. Vielleicht, weil ich ahnte, dass sie biographische Züge trägt, vielleicht aber auch weil man einfach spürt, das hier etwas sehr persönliches erzählt wird. Und es ist kein leichtes Thema. Selbstmord und wie ich mittlerweile in Erfahrung gebracht habe, der Selbstmord des Bruders vom Autoren selbst. Ich fühlte mich, als sei ich in einer Art Zwiegespräch mit dem Schreibenden und seiner Auseinandersetzung mit diesem sehr persönlichen Thema, so als müsste ich schweigen und gut “zuhören“, weil es anständig ist und auch weil es sein Thema ist und ich viel lernen kann. Die Vorgehensweise ist tatsächlich ungewöhnlich und in manchen Besprechungen wird das dem Autoren als Kritik zugeschrieben. Insgesamt ist es eher so, dass ich persönlich fast alle Punkte, die die Kritik als Nachteil erwähnt, was den Stil, Aufbau ect. betrifft, als durchweg positiv betrachte.
Der Ich-Erzähler reist in seine alte Heimatstadt, er ist Schriftsteller und ist eingeladen, einen Vortrag zu halten über einem deutschen Dichter, der zweihundert Jahre zuvor erst eine Freundin und dann sich selbst umgebracht hat. Lukas Bärfuss verrät den Namen des Dichters nicht und ich dankte dem Zufall, denn ich wusste, um wen es sich handelte. Hier kann ich es ja sagen, weil es auch wichtig für die Geschichte ist; es ist Heinrich von Kleist, der sich gemeinsam mit Henriette Vogel das Leben nimmt. Ein wenig schulmeisterlich würden einige sagen – ich mag das Prinzip des Selbstdenkers; des aufmerksamen Lesers.
Dieser berühmte Mord/Selbstmord ist das Bindeglied zwischen dem Erzähler und seinem Bruder. An dem Tag des Vortrages sehen sich die beiden zum letzten Mal. Und so entsteht das erste Symbol. Kurz danach erfährt der Erzähler, das sich der Bruder das Leben genommen hat. Sie stehen sich nicht besonders nahe. Der Bruder ist eigentlich nur ein Halbbruder – sie haben dieselbe Mutter und sie sind nicht zusammen aufgewachsen. Aber die beiden erzählen das nicht oft, sie fühlen sich, wie richtige Brüder. Auch das fand ich sehr interessant erzählt, weil es nicht darum geht, dass sie sich besonders mögen, sondern das ihre Familiengeschichte sie eher mit Scham erfüllt. Ich wurde immer neugieriger und stellte mir vor, das nun der lebende Bruder ganz sicher herausfinden wolle, wer sein Bruder eigentlich wirklich war. Was für ein Mensch steckte hinter diesem fast Unbekannten? Denn sie wussten nicht viel voneinander und sie interessierten sich auch nicht für das Leben des Anderen. Irgendwie sagte mir meine Logik, das die Erzählung nun damit fortlaufen würde, das der Lebende herausfindet, was den anderen in den Tod getrieben hat und wir würden mit ihm zusammen einen Menschen kennen lernen, den weder er noch wir bisher kannten. Es beginnt auch so; einige kleine Episoden aus der Kindheit der beiden, Bilderfetzen und schwache Erinnerungen. Dann der Name, den auch der Roman trägt, Koala. Wir erfahren, wie der Bruder zu diesem Spitznamen gekommen ist. Ein Totem, das ihm bei einer Mutprobe bei den Pfadfindern zugeschrieben wird, als er noch ein kleiner Junge ist. Nicht Tiger oder Löwe, kein Sinnbild für Mut oder Stärke, Entschlossenheit oder Durchsetzungskraft. Nein. Koala, der Inbegriff der Faulheit. Ein Tier, das nie seinen Lebensraum wechselt, eins mit seiner Umwelt wird und nie etwas schafft, die meiste Zeit schläft. Wir, als Leser erahnen gemeinsam mit dem Erzähler, was das für eine Schmach bedeutet haben muss, für den damals noch «kleinen Scheißer» ( original Ton – Lukas Bärfuss ), der doch so gern ein «großer Scheißer» werden und sich entwickeln und bewegen will. Überall Symbole und die Ernsthaftigkeit über den Sinn des Lebens macht sich instinktiv bemerkbar. War die Wahl des Namens schicksalhaft für die Entwicklung des Bruders? War sein Weg vorgezeichnet? Hat er sich gefügt, überbewertet, was andere über ihn gedacht haben und was eigentlich nicht mehr, als ein dummer Jungenstreich war? Hatte er sich eingepasst in das Leben? Ein gewöhnlicher Mensch, mit einem gewöhnlichen Leben, ohne Ehrgeiz, ohne Verantwortung für andere. Der Bruder hat nie seine Heimatstadt verlassen, er hat nie Karriere gemacht, keine Familie gegründet. Wie viel hat der Koala mit dem Bruder gemeinsam? Der Koala frisst ausschließlich Blätter vom Eukalyptusbaum, die giftig sind. Auch der Bruder hat sich langsam und stetig vergiftet, er nimmt Heroin.
Die Droge als einzige Abweichung vom gleichgültig erscheinenden Leben des Bruders? Und sogar der Selbstmord ist unaufgeregt. Sauber, geordnet und keine Leidenschaft oder Verzweiflung. Der Bruder erledigt alles anständig, verteilt sein Hab und Gut und bezahlt seine Rechnungen, bevor er geht. Der Lebende begibt sich auf Spurensuche. Er will reden über ein Thema, über das einfach nicht geredet wird. Selbstmord ist nicht gesellschaftsfähig. Er findet keinen Trost und ich bezweifle, das Lukas Bärfuss ihn gefunden hat, indem er diese Geschichte geschrieben hat. Wie denn auch? Und während ich beim Lesen dem Prozess beiwohne, die Frage zu stellen nach dem freien Willen jedes Menschen, den Tod zu wählen und keine Antwort zu finden, beschleicht mich der Verdacht, das hier eine große Geschichte erzählt wird. Das es nicht um das einzelne Schicksal eines Menschen geht, sondern um die Frage nach dem Sinn des Lebens. Das war ein sehr inniges Gefühl, das mich in diesem Moment mit dem Autoren verbunden hat. Ich konnte erahnen, das der Autor sich diesen Fragen stellen musste, dass das Buch keine sinnliche Erfahrung im eigentlichen Maße war, sondern das dieses Buch sein musste. Das ist immer ein besonderer Punkt, wenn man sich selbst für nur einen Moment auflöst als Person und eins wird mit der Geschichte.
Dann kommt der Hauptteil und hier macht der Schriftsteller den Sprung, den einige vielleicht nicht verstehen…erst einmal nicht. Er erzählt die Evolution des Koalas und sein Fortbestehen. Und er fängt ganz vorne an; mit der Geschichte Australiens. Wie das Land kolonialisiert wird von den Engländern. Und man erfährt einiges über die Ureinwohner, die einstige Strafkolonie, die das Land urbar machen soll und die Rolle des Menschen in der Natur. Manch einer wird sich an dieser Stelle fragen, was das mit dem Selbstmord des Bruders zu tun haben soll. Aber ich verstehe, jedenfalls hoffe ich das. Eine Geschichte über den Menschen und was ihn am Leben hält. Grausam zum Teil und hoffnungslos, wenn wir die Entwicklung betrachten. Aber auch ehrgeizig und diszipliniert. Und genau hier finden wir die Brücke zur Konditionierung des Menschen.
Nach diesem Exkurs der Menschheitsgeschichte kehren wir zu den Brüdern zurück. Die Beerdigung, unauffällig und klein. Und der Lebende wird zu einem Überlebenden und erkennt, wie sehr wir alle Teil des großen Plans sind. Und plötzlich kehrt sich die Frage und wird anders gestellt. Nicht der Selbstmord, das Hand an sich legen, ist das Rätsel, sondern das; warum sind wir noch am Leben?
Und so kehrt der Überlebende in sein Leben zurück an seinen Schreibtisch, um genau diese Verzweiflung zum Ausdruck zu bringen. Ein wenig paradox – er schreibt die Geschichte ja mit einem gewissen Ehrgeiz und kritisiert diesen aber gleichzeitig als Modell. So paradox, wie das Leben selbst eben.
Und so beantwortet dieser Roman keine Fragen und findet auch keine Lösung. Aber er regt an und traut sich etwas, nämlich nichts geringeres, als das menschliche Dasein zu hinterfragen, die Ängste und Philosophien der Menschen zu beleuchten und ihnen ein Kontext zu verleihen, ein geschichtliches Verständnis. Und immer und immer wieder nach dem Sinn zu fragen. Die Selbstzerstörung und wozu einen Gott, und was passiert, wenn wir den Glauben an etwas Höheres verlieren? Die Angst vor dem Nichts ist unermesslich und wir müssen uns ablenken, arbeiten, Ziele haben, etc. um nicht verloren zu gehen.
Ein wichtiges Buch und ein großartiges auch. Und ich danke Lukas Bärfuss dafür – ganz ungehemmt und persönlich.